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Ein geheimnisvolles Manuskript

Meine Romanbiografie über die Solothurner Malerin Amanda Tröndle-Engel ist bereits vor drei Monaten erschienen. Doch nun haben mir Amandas Erben ein in braunes Leinen gebundenes Heft übergeben. Ich solle einmal schauen, ob ich die Schrift darin lesen könne, und ob sie mir bekannt vorkomme, sagen sie. Sie seien erst vor Kurzem zufällig auf das Manuskript gestossen.

 

Ich schlage das Heft auf und lese erstaunt das heutige Datum: 14. Juli ... allerdings  liegt das Jahr schon länger zurück: "Tagebuch vom 14. Juli 1886" steht da in Amandas unverkennbarer Schrift. Heute vor 136 Jahren hat sie ihre Notizen in einer Mischung aus Sütterlin und moderner Schreibschrift zu Papier gebracht. Ihre Buchstabenformen sind so einzigartig und eigenwillig wie ihre Persönlichkeit.

 

Warum Amanda tagebuch ZU führen begann

"Es ist heute ein Jahr, dass uns der ehrwürdige Bischoff ... Fiala in der stillen Visitantenkirche zur heiligen Ehe segnete", schreibt Amanda auf der ersten Seite ihres neuen Tagebuchs. Ja, das kommt mir bekannt vor – am 14. Juli 1885 hat sie ihren Cousin, den Juristen Titus Arnold Amiet, in Solothurn geheiratet. "Dieses Jahr voll von schönen Erinnerungen weckte in mir den Gedanken, mein Tagebuch wieder aufzunehmen", lese ich.

 

Amanda hatte in ihrer Zeit als Teenager im Internat von LaNeuveville Tagebuch geführt. Nun denkt sie, es wäre eine gute Idee, ihre Begegnungen und Erfahrungen als junge Ehefrau zu notieren, um die "die vielen interessanten & glücklichen Stunden" nicht zu vergessen.

 

"Am 14. Juli 1887 will ich aber, so Gott mir die Gesundheit und das Leben schenkt, meine Erlebnisse, Gedanken und Einsichten getreu & klar vor mir sehen ...", schreibt sie.

 

GUte Vorsätze ...

Ich blättere zum Ende des Hefts. Der letzte Eintrag ist vom 6. Januar 1887, die hinterste Seite halb leer. Bedeutet das, dass Amanda entgegen ihrem Vorsatz bereits mit Schreiben aufgehört hat? "Leben und Gesundheit" hatte sie, daran hat es nicht gelegen – sie ist weit über 90 Jahre alt geworden, während ihr geliebter Arnold bereits am 14. Juli 1900 gestorben ist, an ihrem 15. Hochzeitstag.

 

Vielleicht hat Amanda ab dem 6. Januar 1887 kein Tagebuch mehr geführt. Oder möglicherweise stossen ihre Erben irgendwann noch auf die Fortsetzung.

 

Ich hingegen habe nun ein neues Ziel: Ich will Amandas Tagebuch für ihre Erben transkribieren, selbst wenn ihre eigenwillige Schrift nicht eben leicht zu lesen ist. Ihr werdet in einigen Monaten hier wieder von mir hören, ob das Vorhaben gelungen ist, ob ich meinem Vorsatz treu geblieben bin.

 

Die Romanbiografie ist 2022 im Zytglogge Verlag erschienen: "Im Sommer sind die Schatten blau: Amanda Tröndle-Engel" und ist im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich.